Ich lese gerade das Buch von Harry Graf Kessler über den ehemaligen deutschen Außenminister Walther Rathenau, der von englischen Agenten am 24. Juni 1922 ermordet wurde, weil er den Vertrag von Rapallo unterzeichnet hatte, der eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion vereinbarte. Kessler beschreibt die Stimmung in Europa 1913, also ein Jahr vor Kriegsausbruch. Und das hat erschreckende Ähnlichkeiten mit der Jetzt-Zeit, wenn Kessler schreibt: "1913. Poincaré. Am 16. Januar wird Poincaré zum Präsidenten der Französischen Republik gewählt; gegen Pams, dessen Wahlparole der Friede war. Ganz Paris sagt, die einen freudig, die anderen bedrückt: » Poincaré c'est la guerre«. Die Dienstzeit wird auf drei Jahre verlängert. Zur Popularisierung der Armee führt Millerand, der französische Kriegsminister, den großen Zapfenstreich ein; jeden Sonnabend spät, mit Lampions und Musik, zieht die Truppe, bunt bewimpelt, durch die Hauptstraßen von Paris; rechts und links auf beiden Bürgersteigen marschiert der Pöbel mit, nationalistische Lieder singend. Die elegante Welt, die zu Nijinski ins Châtelet, zu Caruso in die Oper strömt, hält ihre Autos an, tritt, wenn der Zapfenstreich im Zwischenakt vorbei kommt, auf die Straße und applaudiert. In der Ferne, auf dem Balkan, tobt der zweite Balkankrieg. Rußland legt in Paris eine neue Anleihe von 665 Millionen Franken für strategische Bahnen auf. Der Großfürst Nikolaus, der Höchstkommandierende des russischen Heeres, macht der Französischen Armee einen offiziellen Besuch; die Großfürstin, die Montenegrinerin, begrüßt von Nancy aus in einer Kundgebung » die verlorenen Provinzen«, das Elsaß und Lothringen. In England organisiert Haldane in der Stille das britische Landungskorps. In Deutschland fordert die Regierung vom Volk ein »Notopfer«: eine Milliarde für neue Rüstungen. Um das Notopfer zu begründen, und als Vorspiel zur kommenden »großen Zeit«, wird an 1813 durch eine Nationalfeier größten Stils erinnert."