Komfortzone verlassen – selbst denken

Was jeden Medizinstudenten in Deutschland mindestens zehn Jahre harte Arbeit kostet, das wurde dem Attentäter von Magdeburg einfach so in den Schoß gelegt: die Approbation als Arzt und die Zulassung als Facharzt. Wie nur konnte er mit nicht anerkannten Papieren die deutschen Behörden überrumpeln?
Als an einem Dienstag im April 2013 in der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern das Telefon klingelt, ahnt niemand, dass in der Leitung ein mörderischer Anrufer wartet. Es ist Taleb al-Abdulmohsen, es geht ihm um seine Facharztprüfung. Wie aus Akten des Amtsgerichts Rostock hervorgeht, hatte al-Abdulmohsen zuerst schriftlich und jetzt noch einmal fernmündlich versucht, einen Termin durchzusetzen. Aber die Behörde hatte sich quergelegt. Erforderliche Dokumente fehlten, darunter der Nachweis einer Approbation als Arzt. Die neuerliche Abfuhr nimmt der Anrufer mit Missmut auf, dann eskaliert das Telefonat. Innerhalb von zehn Tagen, so al-Abdulmohsen, solle die Ärztekammer seinen Antrag bewilligen, sonst werde „etwas Schlimmes“ mit „internationaler Bedeutung“ geschehen. Als makabres Anschauungsbeispiel tischt al-Abdulmohsen der Ärztkammermitarbeiterin den Terroranschlag auf, der tags zuvor weltweites Entsetzen ausgelöst hatte. Auf der Zielgeraden des Boston-Marathons waren zwei Sprengsätze explodiert, es hatte drei Tote gegeben.
Al-Abdulmohsen wird der Prozess gemacht, der Richter hält 90 Tagessätze à 10 Euro für ausreichend, den Telefonwüterich zurück in die Spur zu bringen. Seine Chancen auf den Facharzttitel, sie scheinen damals an der Nulllinie angekommen zu sein
Als rund elf Jahre später ein gemieteter SUV über den Magdeburger Weihnachtsmarkt rast, sitzt jedoch mit al-Abdulmohsen ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Steuer, geprüft und beurkundet durch die Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern. Die Behörde hatte dem Mann, der behauptete, ein Arzt zu sein, eine Zulassung zur Facharztprüfung ausgestellt – obwohl das laut den deutschen Regularien niemals hätte geschehen dürfen. Die Psychiatrie gilt als eine der anspruchsvollsten Fachrichtungen der Medizin, nur wenige Anwärter schaffen es bis zur Prüfung. Die Durchfallquote war 2021 die dritthöchste in Deutschland.
Al-Abdulmohsen war 2006 mit einem Stipendium nach Deutschland gekommen. Er behauptete, in Saudi-Arabien vier Jahre als Psychiater gearbeitet zu haben. Nun wolle er sich in Deutschland zum Facharzt ausbilden lassen. Ein ehrgeiziges Ziel. Laut Prüfungsordnung dürfen Ärzte aus dem Ausland damit erst beginnen, „wenn sie über die ärztliche Approbation oder einen gleichwertigen Kenntnisstand der abgeschlossenen ärztlichen Ausbildung verfügen“. Davon konnte bei al Abdulmohsen keine Rede sein. Die Psychiatrie war zu diesem Zeitpunkt in Saudi-Arabien noch ein junges Fachgebiet, die Psychotherapie nach westlichem Verständnis wird bis heute abgelehnt.
Wie nur konnte ein Mann mit derart dürftigen, in Deutschland nicht anerkannten Papieren die Behörden überrumpeln?Gegenüber WELT lässt die Ärztekammer al-Abdulmohsens fehlenden Approbationsnachweis erst einmal außen vor und beteuert, bei der Facharztbewerbung damals sei es nur um offene Nachfragen zum Lebenslauf gegangen: „Die Punkte konnten geklärt werden.“ Darauf sei der Beschluss erfolgt, dass „Herr A. aufgrund der vorgelegten Unterlagen zur Facharztprüfung zuzulassen“ sei, also auch ohne die „Kenntnisprüfung“, das zwingend erforderliche Kernstück jedes Approbationsverfahrens.