Fiktive Geschichten, Glauben, Opfer – Assoziationen zum Lockdown 2.0
„Die Geschichten, die uns mit Sinn und Identität versorgen, sind alle fiktional, aber Menschen müssen an sie glauben. Wie also sorgt man dafür, dass sich eine solche Erzählung real anfühlt? [...]
Schon vor Jahrtausenden entdeckten Priester und Schamanen die Antwort: durch Rituale. [...]
Von allen Ritualen ist das Opfer das wirkmächtigste, denn von allen Dingen auf der Welt ist Leid am realsten. Es lässt sich niemals ignorieren oder anzweifeln. Wenn Sie also dafür sorgen wollen, dass Menschen wirklich an irgendeine Fiktion glauben, dann bringen Sie sie dazu, ein Opfer für diese Fiktion zu bringen. Sobald jemand für eine Geschichte leidet, reicht das in der Regel, um ihn davon zu überzeugen, dass die Geschichte wahr ist. […] Das ist natürlich ein Trugschluss […] Doch die meisten Menschen gestehen ungern ein, dass sie sich zum Narren halten ließen. Je mehr Opfer sie folglich für eine bestimmte Überzeugung bringen, desto stärker wird ihr Glaube. Das ist die geheimnisvolle Alchemie des Opfers. Damit wir uns seiner Macht unterwerfen, muss der Opferpriester uns gar nichts geben – weder Regen noch Geld noch den Triumph im Krieg. Vielmehr muss er uns etwas wegnehmen. Sobald er uns davon überzeugt, irgendein schmerzliches Opfer zu bringen, sitzen wir in der Falle. […]
Selbstaufopferung ist nicht nur für die Märtyrer selbst extrem überzeugend, sondern auch für die Zuschauer. Nur weniger Götter, Nationen oder Revolutionen kommen ohne Märtyrer aus. Sollten Sie es wagen, das göttliche Drama, den nationalistischen Mythos oder die revolutionäre Saga infrage zu stellen, werden Sie sofort zurechtgewiesen: „aber die gesegneten Märtyrer sind doch dafür gestorben! Willst du behaupten, dass sie umsonst ihr Leben ließen? Glaubst du, diese Helden wären Idioten?“ […]
Wenn Sie sich im Namen irgendeiner Geschichte selbst Leid zufügen, stellt Sie das vor eine Entscheidung: „Entweder die Geschichte ist wahr oder ich bin ein gutgläubiger Narr.“
Wenn Sie anderen Leid zufügen, haben Sie ebenfalls die Wahl: „Entweder die Geschichte ist wahr oder ich bin ein grausamer Schurke.“ Und so wenig wir zugeben wollen, dass wir Narren sind, so wenig wollen wir eingestehen, dass wir Schurken sind, und so glauben wir lieber, dass die Geschichte wahr ist.“
Yuval Noah Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, Auszüge von S. 412 - 444.
„Die Geschichten, die uns mit Sinn und Identität versorgen, sind alle fiktional, aber Menschen müssen an sie glauben. Wie also sorgt man dafür, dass sich eine solche Erzählung real anfühlt? [...]
Schon vor Jahrtausenden entdeckten Priester und Schamanen die Antwort: durch Rituale. [...]
Von allen Ritualen ist das Opfer das wirkmächtigste, denn von allen Dingen auf der Welt ist Leid am realsten. Es lässt sich niemals ignorieren oder anzweifeln. Wenn Sie also dafür sorgen wollen, dass Menschen wirklich an irgendeine Fiktion glauben, dann bringen Sie sie dazu, ein Opfer für diese Fiktion zu bringen. Sobald jemand für eine Geschichte leidet, reicht das in der Regel, um ihn davon zu überzeugen, dass die Geschichte wahr ist. […] Das ist natürlich ein Trugschluss […] Doch die meisten Menschen gestehen ungern ein, dass sie sich zum Narren halten ließen. Je mehr Opfer sie folglich für eine bestimmte Überzeugung bringen, desto stärker wird ihr Glaube. Das ist die geheimnisvolle Alchemie des Opfers. Damit wir uns seiner Macht unterwerfen, muss der Opferpriester uns gar nichts geben – weder Regen noch Geld noch den Triumph im Krieg. Vielmehr muss er uns etwas wegnehmen. Sobald er uns davon überzeugt, irgendein schmerzliches Opfer zu bringen, sitzen wir in der Falle. […]
Selbstaufopferung ist nicht nur für die Märtyrer selbst extrem überzeugend, sondern auch für die Zuschauer. Nur weniger Götter, Nationen oder Revolutionen kommen ohne Märtyrer aus. Sollten Sie es wagen, das göttliche Drama, den nationalistischen Mythos oder die revolutionäre Saga infrage zu stellen, werden Sie sofort zurechtgewiesen: „aber die gesegneten Märtyrer sind doch dafür gestorben! Willst du behaupten, dass sie umsonst ihr Leben ließen? Glaubst du, diese Helden wären Idioten?“ […]
Wenn Sie sich im Namen irgendeiner Geschichte selbst Leid zufügen, stellt Sie das vor eine Entscheidung: „Entweder die Geschichte ist wahr oder ich bin ein gutgläubiger Narr.“
Wenn Sie anderen Leid zufügen, haben Sie ebenfalls die Wahl: „Entweder die Geschichte ist wahr oder ich bin ein grausamer Schurke.“ Und so wenig wir zugeben wollen, dass wir Narren sind, so wenig wollen wir eingestehen, dass wir Schurken sind, und so glauben wir lieber, dass die Geschichte wahr ist.“
Yuval Noah Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, Auszüge von S. 412 - 444.